Ich bin in einem Land zur Schule gegangen, ich bin aufgewachsen in einer Gesellschaft, die den mündigen Bürger, die persönliche Entfaltung eines jeden Einzelnen nach seinen Möglichkeiten, als höchstes pädagogisches Ziel angesehen hatte.

Wir haben Kafka gelesen, Heinrich Mann, Orwell und das Tagebuch der Anne Frank und wir wussten, im christlichen Abendland ist es nicht der Staat, auf den man sich in schlechten Zeiten verlassen kann, es kommt auf das eigene Urteil an, die eigene Gewissensbildung, die sich im Spiegel der Erfahrung eines über Jahrtausende hinweg zerstrittenen und von Kriegen durchzogenen Kontinent zu messen, und die an den Erfahrungen der Ahnen zu reifen hat.

Wir waren als Katholiken zu einem radikal christlichen Lebensstil aufgerufen. Umkehr und Buße waren nicht bloß Worte, sie standen für das regelmäßige Hinterfragen der eigenen Positionen, des eigenen Werdegangs und der persönlichen Entscheidungen. Wir wussten, dass wir als Menschen nie perfekt sein können und auf uns gegenseitig achten müssen.

Nie verstanden wir das als Aufforderung, alles für Gut zu erklären oder es einem Jeden recht zu machen. Im Gegenteil, radikal wollten wir sein! Der lateinischen Grundbedeutung von „Radix“ (Wurzel) entsprechend, wollten wir allem auf den Grund gehen. „Weil du lau bist und weder heiß noch kalt, werde ich dich ausspeien aus meinem Munde“ hatten wir in der Bibel gelesen. Und unsere Herzen brannten heiß. Sie brannten für die Suche nach Wahrheit, für die Liebe und Sehnsucht nach der göttlichen Vollendung.

In erster Linie erfuhren wir die Liebe Gottes im Menschen. Freundschaft und Vertrauen ermöglichen einen flüchtigen Blick ins Paradies. In der Hingabe zueinander erahnen wir das Göttliche, in jedem Menschen nehmen wir die Heiligkeit des Schöpfers wahr und staunen vor dem Wunder, dass in der Welt erschienen, und zur selbstlosen Heilung fähig und bereit ist.

Unser Tun und Streben war getragen von dem Wunsch, das Gute und das Edle im Menschen freizulegen. Wir hatten gelernt, was politische Ideologien auch mit besten Vorsätzen aus dem Menschen machen, wenn nicht mehr die Person, sondern vor allem Lehren und Konzepte im Vordergrund stehen. Wenn man vorgibt zu heilen, dies aber nur über den Weg der Unterdrückung zu erreichen meint.

Im christlichen Sinne radikal zu sein bedeutet, radikal zu lieben. Sich von nichts den Blick auf das Gute im Menschen trügen zu lassen, zu wissen, dass der Mensch als Abbild Gottes über allen Werken der Menschen steht und dass nichts Bestand hat, was nicht aus Sorge, aus Zuneigung und aus Liebe geschieht.

Wenn ich in den Sprachen der Menschen und Engel redete,
hätte aber die Liebe nicht,
wäre ich dröhnendes Erz oder eine lärmende Pauke.
Und wenn ich prophetisch reden könnte
und alle Geheimnisse wüsste
und alle Erkenntnis hätte;
wenn ich alle Glaubenskraft besäße
und Berge damit versetzen könnte,
hätte aber die Liebe nicht,
wäre ich nichts.
Und wenn ich meine ganze Habe verschenkte
und wenn ich meinen Leib opferte, um mich zu rühmen
hätte aber die Liebe nicht,
nützte es mir nichts.*

Kein „berechtigter“ Zorn, keine Wutrede, kein Volksaufstand führt letztlich zum Heil. Das Kämpfen gegen Menschen für eine bessere Welt ist die Krankheit unserer Zeit: Wer gegen Menschen kämpft, wird keine bessere Welt erlangen. Es ist ein sozialistisches Denken, dass die Idee über dem Menschen steht, dass der Zweck die Mittel heiligt und man für das Gute auch mal über Leichen gehen kann.

Nicht die Radikalität ist das Problem, sondern das Ziel, auf das sie gerichtet ist. Auch ist nicht das automatisch gut, was sich mit emotionalen und wohlklingenden Attributen schmückt. Man muss den Dingen auf den Grund gehen, um zu erkennen, wohin eine Reise geht, denn nicht selten unterscheidet sich das Versprechen der Verpackung wesentlich vom Inhalt.

Wir können das derzeit wieder einmal am Wirken unserer grünen Moral- und Vorzeigepartei beobachten. Einst mit der Friedenspartei angetreten, über Natur- und Umweltschutz für eine bessere Welt zu kämpfen, scheint derzeit hauptsächlich noch das „Kämpfen“ eine Rolle zu spielen. Die Leidenschaft, mit der sich ein Herr Hofreiter neuerdings für Waffensysteme interessiert und die Bereitschaft seiner Kollegen, Selbige zu exportieren, hätten viele nicht erwartet.

War da nicht einmal der Slogan „Frieden schaffen ohne Waffen“? Oder wie war das gemeint? Woher kommt der plötzliche Wandel? Doch wenn man genauer hinsieht, so plötzlich ist er nun auch wieder nicht, hat sich diese Partei doch schon im ehemaligen Jugoslawien durch kriegerisches Engagement ausgezeichnet. Von Liebe getragen dürfte das Engagement heute wie damals nicht gewesen sein, eher vielleicht von Emotionen. Man bereist ein Krisengebiet, sieht sich Bilder und Videos an und ist betroffen.

Aus der Betroffenheit heraus, zudem im Bewusstsein, zu den Guten zu gehören, wie Herr Hofreiter das ja einmal recht plakativ erklärt hat, greift man leicht zu den Optionen, die einem die Macht bietet. In diesem Fall zu Geld und Waffen. Keine Rede mehr davon, dass Waffen Menschen töten – es trifft ja den Aggressor, wenn auch nicht nur.

Heilig ist den Grünen der Mensch schon lange nicht mehr, wenn er es denn je gewesen ist. Jeder Bär, jeder Wolf, der draußen rumläuft, ist im Zweifelsfall dem Menschen gegenüber im Recht. Und wenn sich die Menschen im nahen Ausland gegenseitig die Köpfe einschlagen, so mag das mittelfristig gar als Gewinn für die Co2-Bilanz gewertet werden.

Wie immer geht es um Größeres. Um die Rettung der Erde, um die Bekämpfung des Teufels in russischer Gestalt, oder was gerade Thema ist. Nie geht es um den einzelnen Menschen, das persönliche Leid, die Freunde, die Kinder oder die Hinterbliebenen. Für große Themen müssen Einzelne zur Not auch mal zurückstecken. Und egal wie sehr man sich verrennt, man selbst steht unantastbar über allem, als wäre man ein Spieler und die andren bloß Figuren.

Der gute Wille rechtfertigt letztlich alles. Es gibt keine Rückschau, keinen Zweifel, keine Reue und keine Buße. Nur einen Blick nach vorne, ein „Forward-Looking“, das keinen Raum für die Fehler der Vergangenheit lässt und mit dem die Mächtigen immer weiter stolpern, solange der Staat unter ihrer Last nicht ganz zusammenbricht.

* Das Hohelied der Liebe (1 Kor 13)

 

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