Ich habe kürzlich eine Empfehlung für die Kurzgeschichte "Das Ei" von Andy Weir erhalten. Da ich die Erzählung recht beeindruckend finde, habe ich versucht meine Eindrücke hier kurz niederzuschreiben. Wer die Geschichte also noch nicht gelesen hat und nicht gespoilert werden möchte, sollte das Original vorher, z.B. hier lesen.
Zuerst dachte ich, es handle sich um eine Neuauflage von Lessings Ringparabel, doch bald merkte ich, wie falsch ich mit meiner Einschätzung lag. Andy Weir entwirft mit seiner Kurzgeschichte „Das Ei“ einen eigenständigen theologischen Ansatz, der vor allem aus Quellen moderner Astrophysik und Science Fiction schöpft.
Beeindruckend ist der persönliche Bezug zum Leser, der nicht zuletzt durch aktuelle Serien und gesellschaftliche Diskussionen mit der Vorstellung vom Kosmos als einem Multiversum geprägt ist, also der Idee, dass unsre Welt nur eine von vielen ist, die in allen denkbaren Variationen parallel existieren.
Anders als gängige Theorien geht Weir hier von keiner strikten Trennung paralleler Dimensionen aus, sondern führt sie als biologisches Merkmal einer interuniversalen Spezies zusammen. Der Plot ist schnell erzählt: Unser Kosmos gleicht einem Ei, in dem ein Nachkomme eben jener Gattung heranwächst und zwar genau ein Exemplar pro Universum. Die vielen Menschen, denen wir begegnen und von denen wir aus der Geschichte wissen, sind ausschließlich Inkarnationen dieses einen Wesens, des Fötus, wie es genannt wird und das erst schlüpfen wird, wenn es alle Leben durchlebt hat. Wie viele das letztlich sein werden, bleibt ungewiss.
Moral einmal ganz anders
Der Leser, der sich in der Rolle des Heranwachsenden angesprochen fühlt, nimmt den kosmologischen Hintergrund eher am Rande wahr, denn die ethischen Implikationen wirken um ein Vielfaches stärker. Ob er denn auch Hitler gewesen sei, fragt der Protagonist seinen Vater, der ihn zwischen den Inkarnationszyklen in Form eines gottähnlichen Wesens begleitet. „Und du bist die Millionen, die er getötet hat“, lautet die fast lapidar klingende Antwort.
Die Vorstellung, dass jeder Mensch, dem wir begegnen und von dem wir je gehört haben, ein und die selbe Person sei und dass es sich dabei jeweils um uns selbst handelt, hat Sprengkraft. Die häufig als Basis für zwischenmenschliches Verhalten angeführte Goldene Regel des Matthäusevangeliums, nach der man anderen nichts antun solle, was man nicht auch selbst durchleben möchte, wirkt gegen eine derart plastisch vor Augen geführte Ausführung eher blass.
Wer geht hier nicht die Liste der eigenen Bekanntschaften durch? Wer versucht sich nicht an Menschen zu erinnern, mit denen er im Laufe des Lebens besondere Erfahrungen gesammelt hat? Ehemalige Weggefährten aus Familie, Schule, Beruf und Freundeskreis - kann man sich selbst mit dem Partner, den eigenen Kindern, Nachbarn, politischen Gegnern, der Arroganz der Mächtigen oder mit der Schwäche vieler gestrandeten Existenzen am Wegrand identifizieren?
Mir fällt auf Anhieb keine Erzählung ein, die den Anspruch der christlichen Nächstenliebe besser in konkrete Bilder gefasst hätte und wo die Radikalität der Aufforderung zur Fremdenliebe durch Eigenliebe konkreter geworden wäre.
Das "World-Building" tritt in den Hintergrund
Ohne auch nur den geringsten Hinweis darauf, dass der Geschichte eine ontologische Wahrheit zu grunde liegen könnte, ist man versucht, sie zumindest als Möglichkeit zu akzeptieren. Was sollte an der Vorstellung, Nachkomme eines überdimensionalen Wesens zu sein, der in unzähligen Leben zur Geburt heranreift und durch die so gewonnenen Erfahrungen alles menschliche übersteigt, abstrakter sein, als an herkömmlichen Kosmologien, wie wir sie aus Wissenschaft und gängigen Religionen kennen?
Dennoch wirft ein zweiter Blick nicht wenige Fragen auf.
Auch wenn das Ganze als Erzählung dem Science Fiction Genre zugeordnet wird und Anklänge aus dem Bereich der Wissenschaft nicht zu übersehen sind, muss man letztlich feststellen, dass es sich hier um einen rein konstruktivistischen Ansatz handelt. Wie sich das Leben zu Beginn organisiert hat, als in Epochen noch zu wenig Inkarnationen stattgefunden hatten um ein funktionierendes Gesellschaftssystem zu simulieren, spielt für den Fokus der Geschichte keine Rolle und wird auch nicht geklärt.
Offene Fragen
Die Geschichte ist dem Schwerpunkt nach moralischer Natur und lässt eschatologische Fragen weitgehend offen: Worauf hin entwickelt sich der „Fötus“? Durch was wird die Inkarnationsreihe beendet - also gibt es ein Ziel in der Entwicklung oder genügt es, eine festgelegte Anzahl von Leben zu durchlaufen? Im Falle einer Zielgerichtetheit wäre die Frage zu stellen, worauf die Entwicklung hinaus läuft und warum es dafür Milliarden an doch recht ähnlichen Leben geben muss. Die Sorge des Helden um seine Familie, direkt nach dessen Ableben, scheint positiv vermerkt zu werden - doch was hat das für Auswirkungen?
Stellt man sich vor, dass eine derartige Entwicklung für jeden einzelnen Nachkommen der übergeordneten Spezies notwendig ist und dass es zwischen den Föten keine Interaktion geben kann, dann scheinen abgesehen von den Gesprächen mit dem Elternteil zwischen den Leben kaum Impulse von aussen möglich zu sein. Für eine derart weit entwickelte Spezies könnte man sich vermutlich schlankere Prozesse mit weniger Redundanzen vorstellen.
Letztlich bleiben die großen Fragen fast jeder modernen Weltanschauung ungelöst. Es gibt keine Informationen über die göttliche Spezies, der Sinn von Leid und Tod, der hier ja ganz besonders fatal zum Ausdruck kommt, bleibt im Dunklen und die Vorstellung, dass man durch eine schier unendliche Anzahl von Leben nach immer ähnlichem Muster gehen muss, um alle Varianten menschlichen Daseins durchzuspielen, bietet im Hinblick auf das tatsächliche Erleben und eine oft bis an die Unerträglichkeit grenzende Mühsal unseres Daseins wenig Hoffnung.
Was also bleibt als Nachgeschmack nach einigen Tagen Lesens dieser durchaus inspirierenden Geschichte übrig? Für mich ist es vor allem der leuchtende Appell im anderen einen Menschen zu sehen, wie man selber einer ist; sich auch mit dem ärgsten Gegenüber menschlich zu verständigen und nach einem Weg zu suchen, miteinander auszukommen. Wie das allerdings gelingen kann und ob man anhand der vielen schlimmen Erfahrungen im aktuellen Leben nicht besser resigniert und auf eine leichter zu bewältigende Inkarnation hofft, bleibt einem jeden selbst überlassen. Ein Leitfaden, Unterstützung oder gar eine praktische Perspektive vermag ich in der dargestellten Wirklichkeit nicht zu erkennen.