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Es soll Menschen geben, die „Würde“ für den Konjunktiv von „Werden“ halten. Andere denken an etwas Erhabenes, wenn sie diesen Begriff hören. Für die meisten aber dürfte der im Grundgesetz so prominent verankerte Terminus schlicht und einfach „wertvoll“ bedeuten.

„Die Würde des Menschen ist unantastbar“ lautet der bekannte erste Artikel, auf den wir seit Generationen stolz sind. Doch kaum jemand fragt nach dem Inhalt, was gemeint ist mit dem Konzept der Menschenwürde. Für die meisten handelt es sich um eine alte, ehrwürdige Formel, der man aus Etikette zuzustimmen hat.

Es ist ein Tabu, sie zu hinterfragen oder gar anzuzweifeln. Niemand möchte in einer Diskussion offenbaren, dass er den Dreh- und Angelpunkt unserer Verfassung nicht versteht, weder semantisch, noch den Implikationen nach. Und schon gar nicht möchte man allein und als Kritiker einer derart hochgelobten Maxime dastehen.

So wird die Unantastbarkeit der Menschenwürde immer wieder als Floskel vor sich hergetragen, wie ein altes Erbstück, das man bei feierlichen Anlässen präsentiert und von dem man ansonsten keinen Gebrauch zu machen weiß. Andere überlesen den Text schlicht, im Bewusstsein, dass es sich hier vor allem um eine gefällig klingende Randbemerkung handelt, eine Freundlichkeit als Einleitung, ohne weitere Bedeutung.

Was wäre die Alternative?

Wenn die Würde des Menschen ein Tabu ist, wenn sie zu berühren nicht statthaft ist, wie verhält es sich dann in Bezug auf die Würde von Fauna, Flora bzw. der gesamten restlichen Natur? Gibt es dort so etwas und ist es gar in gleicher Weise zu schützen?

Vermutlich, ohne sich dessen bewusst zu sein, dürften die meisten Menschen heute intuitiv davon ausgehen, dass der Vorstellung von Würde keine Realität zugrunde liegt. Eine säkulare Sicht auf die Welt erklärt den Wert aller Entitäten rein funktional. Der gesamte Kosmos entspricht demnach einem großen Getriebe mit einer Vielzahl an Rädchen und Stellschrauben, die erst im Zusammenhang einen Sinn erhalten, nämlich im Hinblick auf die Funktionsfähigkeit des Ganzen.

Von einem solchen Weltbild aus, spielt es dann keine Rolle, ob man neben einer Menschenwürde auch anderes mit Würde belegt, oder ob man auf eine derartige Zuschreibung ganz verzichtet. Natürlich – einzelne Elemente funktionieren besser oder weniger gut, einiges mag redundant erscheinen und in dem Zusammenhang könnte man darauf hinweisen, dass der Mensch von besonderer Wichtigkeit sei, aber eine unantastbare Menschenwürde ist so nicht zu begründen.

Herleitung des Begriffs „Würde“

In einer Ausgabe des Lexikons „Der neue Brockhaus“ aus dem Jahre 1960 beginnt der Artikel zum Begriff der Würde folgendermaßen: „... die einem Menschen kraft seines inneren Wertes zukommende Bedeutung; achtungsfordernde Haltung...“.

Die Menschenwürde hat demnach zwar etwas mit einem „Wert“ zu tun, doch ist intuitiv klar, dass dieser nicht messbar oder mit anderen vergleichbar ist. Die Rede vom „inneren Wert“ und von Achtung assoziiert eher Respekt als Bezahlung. Der Mensch muss sich nicht erst durch besondere Leistungen als würdig erweisen, sondern trägt Würde in seinem Inneren, direkt als fester Bestandteil der Person.

„Unantastbarkeit“ klingt in diesem Zusammenhang beinahe tautologisch, denn natürlich ist der innere Bezugsrahmen eines Menschen vor Übergriffen geschützt. Die Verdopplung, eine per se unerreichbare Würde noch zusätzlich mit Unantastbarkeit zu versehen, weist auf die besondere Wichtigkeit eben jenes Aspektes hin.

Unantastbarkeit

Im Gegensatz zur funktionalen Auffassung vom Menschen verweist die Unverfügbarkeit innerer Werte auf eine prinzipielle Freiheit. Schreibt man dem Menschen Würde zu, sieht man ihn nicht bloß als Spielball fremder Kräfte, sondern eigenverantwortlich, als selbstbestimmte Person.

Freiheit ist in diesem Sinne konstituierend für die Menschenwürde und umgekehrt. Hinge die Würde von äußeren Faktoren ab, vom Funktionieren im Sozialsystem, von der Wertschätzung dritter oder der Gnade eines Staates, wäre sie antastbar. Man könnte sie vom guten Willen oder von weiteren Fähigkeiten abhängig machen und einen Richter einsetzen, der über den Grad der zustehenden Würde entscheidet.

Dieser Versuch wird in der Tat auch regelmäßig unternommen, wenn man dem politischen Gegner, Arbeitslosen, Kranken oder anderweitig nicht goutierten Gruppen meint, Grundrechte absprechen zu können.

Grund- und Menschenrechte

Menschenrechte sind nicht denkbar, ohne Menschenwürde. Es ist ein einzigartiger, singulärer Vorgang in der Geschichte, dass ein Kulturkreis allen Menschen gleiche Rechte zuspricht. In der Regel bezieht sich jeder nur auf seine eigene Sippe, Nation, Sprachgemeinschaft oder Ähnliches.

Erst die Vorstellung der Gottesebenbildlichkeit aller Menschen, ganz unabhängig sonstiger Differenzen, ebnete den Weg bis hin zur Idee einer Feindesliebe. Doch von der rationalen Erkenntnis aus Philosophie und Hl. Schrift, bis hin zur emotionalen Aneignung dieses moralischen Ansatzes, der unter anderem auch zur Abschaffung von Sklaverei führte, brauchte es viele Jahrhunderte.

Rechte, die einem jeden Menschen in exakt gleicher Weise zukommen, die Hochachtung vor dem Menschen und nicht vor seinen Erfolgen, das ist Frucht unserer westlichen Zivilisation und der wertvollste Schatz, den wir hervorgebracht haben. An diesem Anker der Freiheit sollten wir unbedingt festhalten, er bietet eine unvergleichliche Chance auf Entfaltung, Frieden und Wohlstand.

Vergessen wir, was wir hier erreicht haben, degradieren wir die Menschenwürde auf ein rein funktionales Wertesystem und tasten die Würde auf diese Weise an, dann verlieren wir alles, was hier bislang unter dem Blickwinkel von Achtung und Respekt entstanden ist. Höflichkeit, einen gesitteten Umgang, den mögen wir vielleicht behalten. Aber als heilig wird uns dann nichts mehr gelten. Stärke wird dann an die Stelle von Verantwortung treten und keine Macht auf Erden wird sich mehr um die Belange Einzelner kümmern, wenn es ihr nicht gelegen kommt.

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